EU-Politik auf der Spur: Landwirtschaftsschüler in Brüssel – Junge Landwirtinnen und Landwirte informieren sich aus erster Hand
Roth (red). Die Bilder mit den Protesten der Bäuerinnen und Bauern in vielen EU-Ländern prägen seit Wochen die Medien. Auch in Brüssel kam und kommt es zu großen Protestkundgebungen. Viele Landwirte verbinden mit der Hauptstadt Belgiens vor allem die überbordenden und bürokratischen Vorgaben auf dem heimischen Hof. Doch wie kommt es zu den EU-Gesetzen? Wer entscheidet und welche Einflussmöglichkeiten bestehen für die Bürgerinnen und Bürger in den 27 Mitgliedstaaten? Diese und viele weitere Fragen wollte Organisator und Lehrkraft Wolfgang Jank bei der Lehrfahrt der Landwirtschaftsschule Roth mit den Studierenden klären.
Auf dem Weg in die Schaltzentrale der Europäischen Union machte die Reisegruppe aus 35 jungen Landwirtinnen und Landwirten aus dem Einzugsgebiet der Rother Landwirtschaftsschule noch zwei Stopps: zunächst beim Weltmarktführer der Landtechnik John Deere in Mannheim. Im Jahr 1956 übernahm der US-amerikanische Konzern die Firma Lanz in Deutschland. In der größten Produktionsstätte außerhalb der USA fertigen inzwischen über 3.600 Mitarbeiter unter anderem modernste Traktoren. Der Bereich Forschung und Entwicklung nimmt einen bedeutenden Anteil ein und so entstehen immer wieder neue Lösungen für die Landwirtschaft der Zukunft. Die Automatisierung und Digitalisierung stehen hier im Fokus.
Die Fahrt diente auch dazu Berufskollegen mit anderen betrieblichen Schwerpunkten zu besuchen. Einer dieser Betriebe war der Betrieb der Familie Wouters in Reijmerstock in den Niederlanden. Der Familienbetrieb erzeugt auf 28 Hektar Äpfel und Birnen für eine Vermarktungsgenossenschaft. Die Studierenden erfuhren von der Pflanzung mit den Investitionskosten über Pflege bis hin zu Ernte und Vermarktung alles aus erster Hand. Für eine heimische Brauerei baut der Betrieb seit einigen Jahren noch vier Hektar Hopfen an, der biologisch erzeugt wird.
Der zweite Tag der Tour stand ganz im Zeichen der verschiedenen Einrichtungen der Europäischen Union. Zunächst erklärte Frau Salamacha – eine Mitarbeiterin der scheidenden EU-Agrarpolitikerin Marlene Mortler und Frau Schulze-Hofmann – eine Mitarbeiterin des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung (BMEL) aus Berlin die Funktionsweise und den Aufbau des Europäischen Parlaments. Auch wenn die EU oft als großer Apparat dargestellt wird, setzten die beiden dies in Relation: der deutsche Bundestag hat 736 Abgeordnete für über 83 Millionen Bundesbürger, das EU-Parlament 705 Abgeordnete für knapp 450 Millionen EU-Bürger. Nach einem Rundgang durch das Gebäude konnten sich die jungen Hofnachfolgerinnen und Hofnachfolger einen guten Überblick über die Arbeit und Wirkungsweise der Parlamentarier bilden.
Eine zentrale Bedeutung in der EU-Gesetzgebung spielt die Europäische Kommission. Als Initiatorin für die Gesetze werden in den verschiedenen Bereichen die Leitplanken gesetzt. Doch bis es zu einem Gesetz in dem Verfahren kommt, vergeht einige Zeit. Zeit, die auch die Mitgliedstaaten und zahlreichen Verbände und Organisationen vor Ort nutzen, um sich einzubringen. Auch der Freistaat Bayern ist wie alle anderen Bundesländer mit einer eigenen Vertretung in unmittelbarer Nähe zum Parlament vertreten. Herr Dr. Christoph Härle arbeitet hier aktuell für das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Er erklärte in den Räumen der bayerischen Vertretung, wieso der Freistaat sich in Brüssel so stark für Bayern engagiert: der Freistaat liegt mit der Einwohnerzahl auf Platz 8 in der EU (vor Ländern wie z. B. Portugal, Griechenland, Tschechien) und auf Platz der 6 der Wirtschaftsleistung.
Nacheinander referierten Stefan Meitinger vom Bayerischen Bauernverband, Winfried Schröder vom BMEL in der ständigen Vertretung des Bundes und zum Abschluss Frau Dr. Lütteken aus der Generaldirektion Agri (Kommission). Mit aktuellen Informationen versehen, wurde im Anschluss eifrig diskutiert.
Tags darauf widmete sich die Gruppe der dritten großen europäischen Einrichtung: dem Rat der europäischen Union. In diesem werden auf Ebene der Minister oder Präsidenten der Mitgliedsländer die Interessen vertreten. Im Dreiklang Kommission – Parlament – Rat entstehen die Gesetze. Aus ursprünglich sechs Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der Einstimmigkeit, gilt es nun in der EU mit 27 Mitgliedstaaten qualifizierte Mehrheiten zu finden. Ein Ergebnis für unsere jungen Landwirtinnen und Landwirte: die EU-Gesetzgebung ist ein einziger Kompromiss. Von Finnland bis Malta sind alle EU-Gesetze gleich anzuwenden. Was für uns in Deutschland wünschenswert ist, muss auch in Ungarn und auf Zypern umgesetzt werden können.
Neben den EU-Institutionen wurde es nicht versäumt auch die anderen Wahrzeichen Brüssels zu besichtigen: das Atomium und die historische Altstadt. Auch die berühmte belgische Schokolade und das belgische Bier wurden selbstverständlich verköstigt.
Auf dem Rückweg wurde ein kurzer Zwischenstopp in Schengen eingelegt. Der Ort in Luxemburg, an dem im Jahr 1985 der Grundstein für den freien Personenverkehr innerhalb der Mitgliedstaaten gelegt wurde. Auch die Reisegruppe aus Roth hat davon profitiert: vier Länder an vier Tagen ohne Grenzkontrollen! Mit einem landwirtschaftlichen Betrieb endete die Lehrfahrt: in Rot am See wurde der Putenmastbetrieb der Familie Könninger besichtigt. Nach seiner Zeit als Soldat in der Kaserne in Roth kehrte Herr Könninger zurück nach Bade-Württemberg. Was mit damals 5.000 Mastputen begann, hat der Sohn mit seiner Familie inzwischen deutlich ausgeweitet. Kunden sind vor allem die großen Lebensmitteleinzelhändler, die somit Fleisch mit dem Siegel „5 x D“ („fünfmal Deutschland“ – geboren, aufgezogen, gemästet, geschlachtet und verarbeitet) beziehen können.
Die jungen Landwirtinnen und Landwirte kehren mit vielen unterschiedlichen Eindrücken zurück auf ihre heimischen Höfe. Vieles ist nun klarer, vieles aber nach wie vor nicht. Viele Entscheidungen auf EU-Ebene wirken sich vor Ort in der Praxis massiv auf die Bewirtschaftung der Höfe aus. Die „EU“ muss aber das „große Ganze“ im Blick behalten. Wahrlich keine leichte Aufgabe.
Als Appell und Zusammenfassung der Lehrfahrt bleibt festzuhalten: Die großen Ziele, die mit der Gründung der EU im Jahr 1957 verfolgt wurden, dauerhaften Frieden in Europa sicherzustellen und die Ernährung der Menschen zu gewährleisten, wurden jahrzehntelang erreicht. Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs vor über zwei Jahren stehen diese Ziele nun unter großem Druck. Jede und jeder von uns hat die Möglichkeit sich für diese ursprünglichen Ziele demokratisch einzusetzen: am 09. Juni 2024 mit der Wahl des europäischen Parlaments.
Dieses hat einen großen Einfluss auf die Gesetzgebung. Von daher sollte die Teilnahme an dieser Wahl den gleichen Stellenwert für uns haben, wie die nationalen Wahlen.